Mentalität eines Maastrich-Wächters

Gesundheit

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„Die Kritik an der Einkaufspolitik der EU ist kein billiges Nachtreten, sondern ein notwendiger Analyseprozess.“

Am Ende der ersten Kalenderwoche des noch jungen Jahres hat der Wettbewerb um das Unwort des Jahres bereits einen aussichtsreichen Favoriten: Impfnationalismus. Dieser Neologismus klingt nicht nur eklig, auch seine Verwendung als politischer Kampfbegriff ist Teil einer unappetitlichen Diskussion, in der legitime Fragen mit einer ganzen Salve von Nebelkerzen beantwortet wurden.

 

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Bericht v. Kevin Kühnert

 

Auf Grundlage der publik gewordenen Einkaufspreise der Europäischen Union für Covid-19-Impfstoffe, eines Interviews mit Biontech-Chef Uğur Şahin und Kritik aus den Reihen der Leopoldina wurde eine Debatte über die Impfstoff-Beschaffungsstrategie der EU ausgelöst, die sich seither in Nebenkriegsschauplätzen und Ablenkungsmanövern verliert. Dabei rückt die nicht nur retrospektiv relevante Frage nach einem möglichst effizienten Mitteleinsatz durch EU-Kommission und Mitgliedsstaaten in den Hintergrund. Stattdessen werden je nach Standpunkt die Impflogistik der Bundesländer und die Komplexität der Vakzinproduktion diskutiert oder Vorwürfe erhoben, irgendjemand wolle Impfstoffe im Nationalstaat horten und gar die europäische Zusammenarbeit aufkündigen. Außer seitens der AfD sind mir solche Vorstöße jedoch nicht bekannt, was auch logisch ist, denn so blöd muss man erstmal sein, mitten in einer globalisierten Welt eine Pandemie nationalstaatlich bekämpfen zu wollen.

Nein, es geht um etwas anderes. Nach bald zehn Monaten des weltweiten Ausnahmezustands stehen schrittweise erste Impfstoffe bereit und werden bereits verimpft. Die Menschheit realisiert, dass dies das Nadelöhr ist, durch das wir nun hindurchmüssen. Und das möglichst zügig, denn Zeit ist in diesem Fall nicht nur Geld, sondern vor allem Gesundheit. Und weil die Zeit läuft, die Geduld schwindet und die Akzeptanz der Corona-Schutzmaßnahmen bei einer schier endlosen Dauer des Impfprozesses erodieren würde, ist die Kritik an der Einkaufspolitik der EU eben kein billiges Nachtreten, sondern ein notwendiger Analyseprozess für die Optimierung nächster Schritte. Immerhin steht die Frage im Raum, ob eine unverständliche Knauserigkeit Europas Weg zur Durchimpfung fahrlässig verlängert hat.

Als Olaf Scholz am 3. Juni 2020 das Corona-Konjunkturpaket der Bundesregierung vorstellte und proklamierte, man wolle „mit Wumms aus der Krise kommen“, da gingen Deutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande quasi zeitgleich ihre „inklusive Impfallianz“ ein, um gemeinsam die Impfstoffbeschaffung in Europa zu koordinieren. Später wurde das gemeinsame Vorhaben an die Kommission übergeben und dort fortan gemeinsam mit den 27 Mitgliedsstaaten verantwortet. Doch während in Deutschland dreistellige Milliardenbeträge bereitgestellt wurden, um Wirtschaft, Arbeitsplätze und das soziale Leben in der Pandemie zu sichern, war die Europäische Union kurz darauf ausgerechnet beim Bemühen um den Schlüssel schlechthin zur Bekämpfung dieser Pandemie – den Impfstoff – mit einem verstörend schmalen Budget auf Tour. Das ist mehr als irritierend.

Im Kern wurde seinerzeit mit 2,7 Milliarden Euro rangiert und bis heute steht der nicht widerlegte, begründete Verdacht im Raum, Kostenerwägungen hätten bei der Wahl der Anbieter sowie beim Umfang der Bestellungen eine entscheidende Rolle gespielt. Trifft dies zu, dann wäre das eine schwerwiegende Fehleinschätzung in einer hochsensiblen Situation für die gesamte Union gewesen. Um genau diese Unklarheiten zu beseitigen, haben die SPD-regierten Bundesländer einen umfangreichen Fragenkatalog an Gesundheitsminister Spahn gerichtet. Nicht um jemanden vorzuführen, sondern um die Diskussion anhand von Fakten und nicht von Mutmaßungen fortsetzen zu können.

Immerhin steht die Frage im Raum, ob eine unverständliche Knauserigkeit Europas Weg zur Durchimpfung fahrlässig verlängert hat.

Niemand muss Impfstoffexperte sein, um zu verstehen, dass die alte Losung „viel hilft viel“ angesichts der unübersichtlichen Situation und der unschätzbaren Bedeutung wirksamer Impfstoffe im unterstellten Szenario die richtige Strategie gewesen wäre. Übersetzt heißt das: Wenn ich die überlebenswichtige Nadel im Heuhaufen nicht finden kann, dann kaufe ich erstmal den Heuhaufen und kümmere mich später um alles weitere. Noch dazu, wenn der Verlust der Nadel um ein vielfaches teurer ist, als der Heuhaufen selbst.

Niemand wirft den Verantwortlichen schließlich vor, im Sommer 2020 nicht präzise gewusst zu haben, welcher Anbieter wann und mit welcher Wirksamkeit einen Impfstoff durch die Zulassung bringen würde. Solche Schlaumeierei verbietet sich. Jedoch verdient die Öffentlichkeit Auskunft darüber, auf welcher Grundlage die Gemeinschaft schlussendlich ihre überschaubaren und teils sehr späten Bestellungen aufgegeben hat. Hat Deutschland größere finanzielle Anstrengungen vorgeschlagen und dafür eigene Angebote unterbreitet? Wie hat sich die Bundesregierung im zuständigen Steering Committee eingebracht und welche Linie hat Jens Spahn dort vorgegeben? Und war die Kommission einig in ihrem Vorgehen? Diese Fragen sind keine Majestätsbeleidigungen, sondern deuten auf relevante Aspekte einer Debatte von nationaler und europäischer Bedeutung.

Schließlich verrät der Blick auf die bereitgestellten finanziellen Mittel nicht nur, welches Budget zum unmittelbaren Ankauf der Vakzine bereitstand. Er offenbart gleichermaßen die (fehlenden) Spielräume, um die Unternehmen beim seinerzeit noch langfristigen Ausbau der Produktionskapazitäten, bei der Logistik und insbesondere bei der Übernahme und Absicherung von Haftungsrisiken zu unterstützen. Allesamt Themen, die nun stattdessen in diesen Tagen eilig diskutiert und organisiert werden müssen, während die USA eben diese naheliegenden Schlaglöcher frühzeitig mit einem vergleichsweise lächerlichen 18 Milliarden Dollar-Programm gestopft haben. Was ihnen offenkundig auch zu massiven vertraglichen Vorteilen verholfen hat, die sich insbesondere in zügigeren Lieferungen – selbst bei den späteren Nachbestellungen – äußern.

Die gesamte Debatte über das Vorgehen Europas ist aus mindestens drei Gründen absolut notwendig. Erstens, weil politische Verantwortung immer auch mit der Pflicht zum Ablegen von Rechenschaft einhergeht und auch Positionen, von denen man überzeugt ist, begründet werden müssen. Vermeintliche Alternativlosigkeit hatten wir lange genug. Zweitens, weil mit Blick auf die Impfstoffe noch wichtige Entscheidungen vor uns und anderen Teilen der Welt (insbesondere der südlichen Halbkugel) liegen, Kaufentscheidungen zu treffen und Produktionsprozesse zu organisieren sind. Fehler der Vergangenheit können nicht geheilt, aber abgestellt werden. Und drittens, weil der Vorgang ein Schlaglicht auf den Umgang der EU mit öffentlichen Investitionen, Daseinsvorsorge und sensibler Infrastruktur wirft. Es passt leider ins Bild, wenn unser reicher Kontinent nach dem Klimaschutz, dem digitalen Wandel und der sozialen Ungleichheit eine weitere epochale Menschheitsaufgabe mit der Mentalität eines Maastricht-Kriterien-Wächters lösen möchte.

Eben diese Mentalität hindert uns an einer effizienten Problemlösung und ist tragischerweise dazu geeignet – das sehen wir in diesen Tagen –, ein klassisches blame game gegenüber Brüssel spielen zu können, das einigen nur allzu gut in ihr politisches Konzept passt. Wer das nicht möchte, der wird mit der bloßen Beschwörung der europäischen Idee nicht weit kommen. Sondern er muss Brüssel politisch, finanziell und mental in die Lage versetzen, konsequent im Sinne des Gemeinwohls seiner Bürgerinnen und Bürger agieren zu können, wann immer es ans Eingemachte geht.

 
 

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